Kyrill. Ein Orkan fegt durchs Land

WDR 2017, 45 Minuten

Autor: Lothar Schröder, Kamera: Dierk Fechner, Florian Brückner, Redaktion: Adrian Lehnigk

Die Meteorologen weisen schon Tage zuvor auf den schlimmsten Sturm seit Jahren hin. Die Feuerwehr warnt vor fliegenden Ästen, Bäumen und Dachziegeln. Wenn möglich soll ab nachmittags niemand mehr das Haus verlassen. Alle sind gewarnt.

„Kyrill“ ist ungewöhnlich flächendeckend, er zieht mit Spitzenwerten von mehr als 200 km/h über ganz Deutschland. Allerdings hat Nordrhein-Westfalen deutschlandweit nicht nur die meisten Todesopfer, sondern auch die stärksten Sturmschäden zu verzeichnen – genauso viel wie alle anderen Bundesländer zusammen.

Mittags erreicht Kyrill über die Nordsee Norddeutschland. In NRW steht es im Ermessen der Schulleiter Schüler bereits nach der vierten Stunde nachhause zu schicken. Die meisten schicken die Kinder nachhause. In Burgsteinfurt(Münsterland) bleiben viele Schüler bis zum Nachmittag in ihrer Ganztagsgrundschule. Wenige Minuten nachdem das letzte Kind abgeholt ist, schlägt Kyrill zu. Der Sturm hebt den gesamten Dachstuhl ab und zertrümmert ihn auf der Straße sowie auf den umliegenden Häusern. Anderen Schulen geht es ähnlich.

Ab 16 Uhr nimmt der Sturm in NRW verstärkt Fahrt auf.

In Köln-Junkersdorf kracht ein Baum in ein Kinderzimmer, in dem gerade Geburtstag gefeiert wird. Einige Gäste werden durch Glassplitter verletzt.

Die Domplatte ist vorsorglich abgesperrt, sodass durch die umherfliegenden Balken, die kurz darauf im Römisch-Germanischen Museum einschlagen, niemand verletzt wird. Zu Schaden kommt aber das Prunkstück des Museums, das römischen Dionysos-Mosaik aus dem dritten Jahrhundert.

Die größte Gefahr geht allerorten von umfallenden Bäumen aus. Den ganzen Tag hat es geregnet, der Boden ist aufgeweicht und die Wurzeln haben keinen Halt gegen den starken Sturm. Vor dem Münsteraner Schloss fallen 40 Bäume um und stürzen auf die befahrene Straße. In Lippstadt wird eine junge Frau im Auto erschlagen, in Essen ein Motorradfahrer. Zahlreiche Feuerwehrmänner geraten beim Freisägen der Straßen unter umstürzende Bäume, da sie wegen der lauten Motorsägen die Warnungen nicht hören.

Aachen ruft zwischen 18-22 Uhr seine gesamten Busse ins Depot und die Deutsche Bahn stellt erstmals in ihrer Geschichte bundesweit den gesamten Verkehr ein. Chaos an den Bahnhöfen. Erst am nächsten Mittag können erste Züge wieder fahren – die Strecken sind übersät mit Bäumen, die Bahnhöfe mit Wartenden.

Strommaste, Stromleitungen und Telefonleitungen werden an vielen Orten zerstört. Ab 18 Uhr ist Stromausfall in Duisburg, um 19 Uhr wird Wuppertal dunkel. Viele Orte auf dem Lande sowieso. Im Sauerland und Siegerland sind manche Ortschaften tagelang von der Außenwelt abgeschnitten – in der Regel ohne Strom und Telefon.

Hier sind die größten Schäden entstanden, denn hier stehen die meisten Bäume. Mit 72% ist der Kreis Siegen-Wittgenstein die am dichtesten bewaldete Region Deutschlands. 25 Millionen Bäume hat Kyrill allein in NRW entwurzelt oder abgebrochen. Nachdem selbst die Retter beim Retten von fallenden Bäumen eingeschlossen sind und selbst gerettet werden müssen, lösen die Kreise Siegen-Wittgenstein und Olpe um 19.20 Uhr Katastrophenalarm aus.

In der Dunkelheit hören die Sauer- und Siegerländer wie ihnen die Wälder zusammenbrechen. Am nächsten Morgen stehen Förster und Waldbauern weinend vor ihren vernichteten Existenzen. Kyrill hat gigantische Schneisen in die Wälder gefräst. 16 Mio Festmeter Holz müssen so schnell wie möglich aus dem Wald gezogen werden, bevor der Borkenkäfer bei der milden Witterung zuschlägt und das Holz unbrauchbar macht.

Arbeitskräfte werden in der ganzen Welt angeheuert, das Forstamt Hilchenbach stellt allein neun Dolmetscher ein.

Die richtigen Maschinen (Harvester) und Lastwagen sind rar und nur über Beziehungen zu bekommen. Mit jedem Tag sinkt der Holzpreis und die Katastrophe wird noch größer. THW und Feuerwehr sind mit den Aufräumungsarbeiten völlig überfordert, aber fast jeder hat eine Motorsäge im Schuppen. In der Not stehen sie zusammen und das Freilegen der Straßen wird zum Gemeinschaftserlebnis der Bürger.

Aber die Aufräumarbeiten sind nicht ungefährlich. Immer noch stürzen Bäume um und die Liegenden stehen unter Spannung. In Nordrhein-Westfalen allein sterben bei den Aufräumungsarbeiten in den betroffenen Wäldern bis Mitte Januar 2008 weitere sechs Menschen und es gibt mehr als 700 Unfälle mit Verletzten.

Aus dem Schaden lernen die Waldbauern, dass ihre Fichtenmonokulturen der falsche Weg sind. Zu leicht kippt dieser Flachwurzler um. Auf den „Schlachtfeldern“ des Sauerlandes stehen einzelne Douglasien und empfehlen sich als Baum der Zukunft. Als Lehre aus Kyrill gibt es nun wieder mehr Mischwälder mit Bäumen die sich gegenseitig stützen können.

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